- Österreich-Ungarn: Nationale Fragen in der Donaumonarchie
- Österreich-Ungarn: Nationale Fragen in der DonaumonarchieIm Selbstverständnis der Zeit war »Nation« im Rahmen der Habsburgermonarchie des späten 19. Jahrhunderts »Sprachnation«. Weder die politischen Einheiten noch die religiösen Trennlinien erwiesen sich als nationbildend, und bis zur Gegenwart bezeichnet man als »Nationalitäten der Habsburgermonarchie« die Sprachgruppen. Der Kampf der Nationen um die Positionierungen innerhalb des Staatsverbands, um Schulen, Gerichtssprachen, soziale Durchlässigkeiten und kulturelle Identitäten, prägte die Jahrzehnte bis zum Ersten Weltkrieg. Es war kein Kampf gegen den Staat: Über die Monarchie hinaus dachten keine größeren Gruppen. Erst der Krieg selbst brachte hier den raschen Perspektivenwechsel.Während sich in den großen Staaten Westeuropas der Modernisierungsprozess auch so vollzog, dass sich die Sprachgrenzen den Landesgrenzen anpassten, sich also die dominante Sprache flächendeckend als Verkehrssprache durchsetzte und praktisch nur sie die regionale und soziale Mobilität gewährleistete — obgleich das 20. Jahrhundert zeigt, dass dieser Prozess nicht irreversibel ist und auch nicht allzu tief ging —, war dies in der Habsburgermonarchie nicht möglich. Die beherrschende Sprache fehlte, Deutsch war zwar de facto eine Art Verkehrssprache, aber sowohl die Ausdehnung des Staates als auch die Größenordnungen zwischen den Sprachgruppen ließen eine Durchsetzung zur Staatssprache nicht zu. Das Übergewicht der deutschsprachigen Gruppe mit 23,4 Prozent der Gesamtbevölkerung um 1910 war zwar zahlenmäßig gegeben, und dies wurde machtpolitisch verstärkt, eine umfassende Dominanz erlangte sie aber nicht. Vor allem war auch diese Gruppe nach außen orientiert, an der Entwicklung im Deutschen Reich interessiert und damit tendenziell zentrifugal wie auch die Italiener, Polen, Rumänen, Ruthenen und Serben. Der größere Teil der Bewohner der Habsburgermonarchie hatte somit eine ethnisch-sprachliche größere Bezugsgruppe außerhalb der Grenzen des eigenen Staates. Nur die Kroaten, Magyaren, Slowaken, Slowenen und Tschechen lebten weitestgehend oder zur Gänze innerhalb dieser Grenzen, sie stellten zusammen aber nur etwa 40 Prozent der Bevölkerung.Österreich von 1848 bis 1918Es ist geradezu erstaunlich, wie sehr die Monarchie in den sie- ben Jahrzehnten zwischen 1848 und 1918 dennoch eine Einheit war. Dabei wurde die große Chance eines entscheidenden Reformschrittes 1848/49 nicht genutzt. Der in der Revolutionsphase gewählte österreichische Reichsrat hatte einen Verfassungsentwurf ausgearbeitet, nach dem Bundesländer der einzelnen Nationalitäten geschaffen werden sollten, um die alten Kronländer zu ersetzen. Dieser föderalistische, demokratische Vorschlag sollte die Revolution nicht überdauern, machte aber deutlich, dass Demokratisierung und der Gedanke der nationalen Chancengleichheit in engem Zusammenhang standen.Am Beginn stand also eine Revolution, die niedergeschlagen wurde. Am Ende, sieben Jahrzehnte später, war die nächste Revolution erfolgreich, da sie von außen politische Rückendeckung hatte. Sie brachte das Ende des Vielvölkerstaates, in dem sie aus der Nahperspektive einen Völkerkerker zu erblicken meinte. Die Antwort darauf war die Zerschlagung, die aber neue Minoritäten schuf, da klar erkennbare ethnische Trennlinien nicht zu ziehen waren und neue Machtstrukturen sich durchsetzten.Zwischen diesen beiden Revolutionen vollzog sich in Europa eine dynamische Entwicklung, in die auch die Habsburgermonarchie eingebunden war. Dieser Wandel beeinflusste die Entwicklung innerhalb der Nationalitäten, bewirkte regionale und soziale Mobilitäten und damit das Aufbrechen neuer Konfliktlinien; er veränderte aber vor allem auch den Nationalismus als eine der prägenden Ideologien des 19. Jahrhunderts. War dieser 1848 noch in Übereinstimmung mit dem Liberalismus Triebfeder der revolutionären Bewegungen in Mitteleuropa und gingen Demokratie und Nationalismus Hand in Hand, so brachten die Folgejahrzehnte ein dramatisches Auseinanderentwickeln. Der Nationalismus wurde als Abgrenzungsinstrument eingesetzt, dem Gedanken der Gleichheit und der Annäherung fremd waren, und schließlich wurde er noch biologistisch überhöht. Vom Partner des Liberalismus wandelte er sich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Ideologie, die scharf antiliberal und antidemokratisch geprägt war. Dabei taten sich jene Gruppen leichter, die auf eine historische Staatenbildung zurückgreifen konnten, die somit nicht »geschichtslos« waren.Reform von obenNach der Revolution von 1848 wurde unter der Herrschaft des jungen Kaisers Franz Joseph im Neoabsolutismus der Versuch unternommen, den Staat von oben in einigen Bereichen zu modernisieren. Vor allem die Verwaltungsreform von Alexander Freiherr von Bach sollte zentralstaatliche Elemente durchsetzen. Das neue Beamtentum wurde rasch zu einer Stütze des Gesamtstaates. Die 1849 in der nachrevolutionären Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung der Nationen scheiterte jedoch an der Praxis. Besonders aber wurde die Schule zu einem Feld der Auseinandersetzung. Die Unabhängigkeit von Staat und Kirche, die auch für die Universitäten galt, die schon 1847 erfolgte Gründung der Akademie der Wissenschaften, all das konnte auch als Instrument der deutschen Herrschaftssicherung verstanden werden. Deutsch war etwa die Unterrichtssprache an den Universitäten, die Praxis zeigte aber, dass das Bildungssystem dennoch national sehr durchlässig und die Sprachentscheidung eher eine pragmatische als eine ideologische war. Von den knapp 16000 Volksschulen in der Monarchie waren 6300 deutschsprachig, in etwa 3000 wurde in tschechischer Sprache unterrichtet. Relativ gering waren die gemischtsprachigen Schulen vertreten, die weniger als 2000 betrugen. Die nach 1848 im Neoabsolutismus festgelegte Struktur enthielt sowohl Elemente der Germanisierung als auch Möglichkeiten der nationalen Emanzipation.»Ausgleich« von 1867Die Entwicklung zwischen der Revolution von 1848 und dem Ersten Weltkrieg verlief keinesfalls kontinuierlich, sondern war von inneren und äußeren Brüchen und Erschütterungen gekennzeichnet, die sich wechselseitig bedingten. Die Niederlage Österreichs in der Schlacht von Königgrätz gegen Preußen im Jahr 1866 beendete jede Möglichkeit der Dominanz Österreichs in dem sich herausbildenden Deutschen Reich und machte innere Reorganisationen notwendig. Dabei war das Oktoberdiplom von 1860, das versucht hatte, Österreich auf föderalistischer Grundlage neu zu gestalten, bereits ebenso gescheitert wie der Versuch einer neuen Gesamtstaatsverfassung und neuer Landesstatute für die deutsch- slawischen Kronländer im Februarpatent 1861. Der Ausgleich mit Ungarn schließlich verfestigte die duale Form der Habsburgermonarchie und bestimmte nur noch einige gemeinsame Angelegenheiten (Auswärtiges, Heer, Finanzen). Die Grenze zwischen den beiden Teilen des Reiches war zwar schon seit 1526 Realität, der Ausgleich schrieb aber die Vorherrschaft der Deutschösterreicher im österreichischen Reichsteil Zisleithanien und der Magyaren im ungarischen Reichsteil Transleithanien fest. Beide Reichsteile erhielten eine Verfassung, die zwischen Zentralismus und Föderalismus zu vermitteln suchte. Jeder der beiden Staaten war unter dem gemeinsamen Staatsoberhaupt als konstitutionelle Monarchie organisiert.Allerdings teilten sich viele der dort lebenden Nationalitäten auf beide Teile der Monarchie auf: Deutsche, Italiener, Kroaten, Rumänen, Ruthenen, Serben und Slowenen lebten sowohl diesseits als auch jenseits der Trennlinie. Dramatisch war aber, dass in der Folge die slawischen Bevölkerungsgruppen eine ähnliche Sonderstellung forderten. So legten die Tschechen 1868 dem böhmichen und mährischen Landtag Deklarationen mit der Forderung nach Eigenstaatlichkeit vor; den Polen wurde in Galizien im selben Jahr das Zugeständnis der polnischen Amtssprache gemacht. Die Slawen stellten, wenn auch weder sprachlich noch territorial eine homogene Einheit bildend, die knappe Hälfte der Gesamtbevölkerung, und sie sahen sich durch den österreichisch-ungarischen Dualismus in ihren Entwicklungsmöglichkeiten behindert.Parteien im HabsburgerreichIn der österreichischen Reichshälfte bedeutete das Jahr 1867 auch den Beginn einer langsamen Demokratisierung, die mit den fünf liberalen Staatsgrundgesetzen vom Dezember ihren Anfang nahm, die den Österreichisch-Ungarischen Ausgleich ergänzten; diese Demokratisierung ermöglichte in den Folgejahrzehnten die Herausbildung einer differenzierten Parteienlandschaft. Auch diese Parteienlandschaft korrespondierte mit der nationalen Frage: Alle Parteien gingen aus dem Umfeld der liberalen Honoratioren hervor, die als junge Menschen 1848 die Revolution mitgetragen hatten und die nunmehr unterschiedliche Aspekte der Ideale aus jener Zeit zu bewahren versuchten.Mit Ausnahme der Sozialdemokraten gab es nur Parteien, die ihr Wirken auf den jeweiligen Sprachraum beschränkten und die somit bewusst national waren. Konnte man das Linzer Programm der Deutschnationalen von 1882 noch in der klaren Ableitung von 1848 als ein umfassendes Parteiprogramm verstehen, vollzog sich kurze Zeit später der Wandel des Deutschnationalismus in eine antiliberale und betont antisemitische Denkart. Auch die Christlichsozialen, die im späten 19. Jahrhundert in der Wiener Kommunalpolitik erfolgreich und dominant geworden waren, setzten auf nationale Vorurteile und antisemitische Töne. Natürlich sprach dies auch Arbeiter an. Die Sozialdemokratie versuchte dennoch, ganz strikt auf einem nationenübergreifenden Kurs zu bleiben. Ausdruck dieser Bemühungen ist das von einer jüngeren Generation der Parteiführer konzipierte Brünner Programm von 1899, bei dem es weniger um eine gesamtpolitische Konzeption, sondern um das Verhältnis zum Staat ging. Dieses Programm forderte die Umwandlung Österreichs in einen »demokratischen Nationalitätenbundesstaat«, wobei an die Stelle der bisherigen Kronländer nationale Selbstverwaltungskörper treten sollten. Damit betrat die österreichische Sozialdemokratie einen Sonderweg, der sie einerseits nah an den Staat heranführte (»k.k. Sozialdemokratie« war die von den Gegnern verwendete Bezeichnung) und sie neben Herrscherhaus, Bürokratie und Militär zur einzigen integrativen Kraft in der Monarchie machte, andererseits aber auch ihr spezielles Profil im internationalen Maßstab begründete. Ohne Vorbilder wurde sie letztlich im Austromarxismus bestimmend in der Theoriebildung zur nationalen Frage.Alle Parteiführer, Georg Ritter von Schönerer vom deutschnationalen Lager, Karl Lueger von den Christlichsozialen und Victor Adler von den Sozialdemokraten, hatten für ihre politischen Gruppierungen Teilerbschaften aus dem liberalnationalen Politikverständnis übernommen.Zentralismus oder TrialismusEs ist bezeichnend, dass bis zur Gegenwart alle Analysen der nationalen Problematik auf den Denkansätzen aufbauen, die um die Jahrhundertwende in der Donaumonarchie geleistet wurden. Nur hier existierte ein Kompositum aus verschiedensten ethnischen Bestandteilen als Resultat dynastischer Politik und als Ergebnis von Kriegen sowie diplomatischen Entscheidungen, das gleichzeitig versuchte, ein moderner Staat zu sein und im Konzert der neuen Großmächte mitzuspielen. Modernität und nationale Homogenität schienen aber damals untrennbar zusammenzugehören, zumindest im Sinn von einheitlicher Kommunikation, die politisch, ökonomisch und kulturell die Voraussetzung zum leichten Umgang miteinander und zur raschen Durchsetzung von Neuerungen war.Die Habsburgermonarchie konnte auf ein hohes Bildungsniveau, niedrige Analphabetenraten, auf gute ökonomische Bedingungen und passable Infrastruktur, auf ein beachtliches Heer — trotz der Niederlagen — und auf kulturelle Meisterleistungen verweisen. Dennoch schien das Staatsgebilde ein Anachronismus zu sein. Seine Lebensfähigkeit wurde 1848 gründlich bezweifelt, aber kein Theoretiker der einzelnen Nationen dachte über den Rahmen der Monarchie hinaus.Grob kann man bei der Defintion von Nation zwei Richtungen unterscheiden: Sprachgruppen, die ein Kronland dominierten, sich aber dort mit anderen Minoritäten konfrontiert sahen, setzten auf staatsrechtliche Argumente, also auf das Territorialprinzip, wie zum Beispiel die Tschechen. Bei Völkern, deren Angehörige zerstreut waren und die auf keine historisch-politische Tradition zurückgreifen konnten, überwog das Personalitätsprinzip, das nationale Rechte an das Individuum, nicht an das Territorium binden wollte, so besonders bei den Slowenen. Im letzteren Falle ist Nation eine ausschließlich kulturelle Kategorie, im ersteren ist sie zumindest auch politisch und ökonomisch zu fassen.»Vereinigte Staaten von Groß-Österreich«Ist diese Form des Nationalismus, auch wenn sie nur auf gleiche Rechte abzielt, stets eine, die die eigene Gruppe gegenüber den anderen auf- und damit die anderen abwertet, so gab es daneben auch Bemühungen, den Gesamtkomplex des Vielvölkerstaates zu analysieren, um daraus Schlüsse für sein besseres Funktionieren abzuleiten. Im konservativen Lager ist dabei vor allem Aurel Popovici zu nennen, der zum Kreis um den Thronfolger Franz Ferdinand gehörte. 1906 erschien sein Buch »Die vereinigten Staaten von Groß-Österreich«, mit dem er auf eine nationale Föderalisierung der Monarchie abzielte. Die Hauptstoßrichtung galt dem Zentralismus in Ungarn. Insgesamt sah er für Österreich 15 nationale Einheiten vor, die bundesstaatlich organisiert sein sollten. Im Kreis um Franz Ferdinand wurde aber auf den Trialismus gesetzt, der neben den Deutschen und den Magyaren später die Tschechen oder die Südslawen als dritte Gruppe privilegieren sollte. Unter anderem wurde diese Idee — wegen des serbischen Widerstandes — als Erklärung für das Attentat von Sarajevo, das den Ersten Weltkrieg auslöste, angesehen.Analytisch schärfer waren die Konzepte der politischen Linken. Eine ganze Schule, der Austromarxismus, ist durch die Beschäftigung mit diesem Problemfeld entstanden.Staatssprache oder LandesspracheDie heftigsten nationalen Auseinandersetzungen zwischen 1867 und 1914 fanden ohne Frage in Böhmen und Mähren statt. 1871 wurde die Idee eines böhmischen Ausgleichs verworfen, und damit war eine Möglichkeit vertan, das Problem dauerhaft zu lösen. Die große deutschsprachige Minorität in Böhmen und Mähren stellte das Haupthindernis dar, den Tschechen Sonderrechte zu gewähren. 1880 wies die Regierung Taaffe die Behörden Böhmens und Mährens an, Amtshandlungen in jener Sprache abzuwickeln, in der die Eingabe erfolgt war. Somit war die Zweisprachigkeit im äußeren Dienstverkehr festgelegt, während die innere Amtssprache Deutsch blieb. Die Tschechen wehrten sich aber — erfolgreich — gegen die Anerkennung von Deutsch als »Staatssprache«, die Deutschen verhinderten Tschechisch als »Landessprache« in Böhmen. Die Sprachenfrage war zum Kampffeld geworden. 1882 wurde die älteste Universität der Habsburgermonarchie, die Alma Mater Carolina in Prag, in eine tschechische und eine deutsche Universität geteilt. Brünn erhielt eine tschechischsprachige Technische Hochschule, und eine eigenständige tschechische Akademie der Wissenschaften wurde gegründet. Sogar eine Teilung des Königreiches Böhmen wurde ernsthaft erwogen. Als aber 1891 die Jungtschechen mit einem betont nationalen Programm, das weitgehende Forderungen enthielt (tschechische Staatssprache in Böhmen, Krönung von Kaiser Franz Joseph als König von Böhmen), bei den Reichsratswahlen 49 Sitze erlangten, die um Verständigung bemühten Alttschechen hingegen nur noch 12, standen die Zeichen endgültig auf Sturm. Mit ihren Vereinen und Symbolen, mit ihren politischen Repräsentanten und Wertvorstellungen trugen beide Seiten zur Eskalation bei.Wahlrechtsreform und der »Mährische Ausgleich«Als der Kaiser den Statthalter von Galizien, Kasimir Graf Badeni, 1895 mit der Regierung betraute, schien der starke Mann gefunden, der den Flächenbrand eindämmen sollte. Er versuchte dies mit einer Wahlrechtsreform, die dazu führte, dass alle erwachsenen Männer über 24 Jahre, die zumindest sechs Monate im Wahlspren- gel anwesend waren, in der fünften, der allgemeinen Kurie, wählen durften. Nun zogen auch die neuen Massenparteien ins Parlament, die nationale Frage wurde damit jedoch nicht gelöst. Als Konsequenz erließ Badeni im April 1897 zum Abbau der deutsch-tschechischen Spannungen Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren, die die Zweisprachigkeit im inneren und im äußeren Amtsverkehr garantieren sollten. Die deutsch-böhmischen Gemeinden protestierten scharf, überall, auch weit außerhalb der betroffenen Gebiete — wie in Graz oder Klagenfurt — gab es Demonstrationen. Die Universitäten Deutschlands schalteten sich ein, deutsche »Schutzvereine« wurden gegründet. Im Parlament brachte schließlich die deutschnationale Obstruktionspolitik die Regierung zu Fall. Der Kaiser musste Badeni entlassen, die Nachfolger nahmen die Verordnungen schrittweise zurück. Die schwerste innere Staatskrise endete somit mit einer Niederlage jener, die durch Zugeständnisse an die nichtdeutschen Nationen den Erhalt der Monarchie zu sichern trachteten.Dass es auch anders ging, wurde kurze Zeit später unter Beweis gestellt. 1905 wurde ein gut ausgehandelter Kompromiss, der »Mährische Ausgleich«, vom Kaiser sanktioniert. Dieser sah für Mähren vor, dass alle Gemeinden die freie Wahl für eine der beiden Sprachen hatten. Lebten in einer Gemeinde zumindest 20 Prozent der jeweils anderen Sprachgruppe, so mussten Eingaben in beiden Sprachen behandelt werden. In der Wahl der Schule setzte sich das Personalitätsprinzip durch: Jeder hatte, unabhängig vom Wohnort, das Recht auf Unterricht in der Muttersprache. Und bei den Wahlen gab es getrennte Wählerkataster mit garantiertem Minderheitenschutz. Landtag und Landesschulrat waren zweigeteilt, Beamtenbesetzungen erfolgten nach der Bevölkerungsrelation. 1910 wurde, noch komplexer, ein Ausgleich in der viersprachigen Bukowina geschaffen. Die Monarchie bewies immerhin, dass sie in Theorie und Praxis Lösungswege aufzeigte, wenn es auch klar war, dass vor dem Ersten Weltkrieg das Problem keinesfalls als erledigt zu betrachten war.Trennende und verbindende ElementeDie Industrialisierung, die Hebung des Bildungsniveaus, der Ausbau des Verkehrs, all dies hatte in der Habsburgermonarchie die regionale und soziale Mobilität deutlich erhöht, in der nationalen Frage die Konflikte aber tendenziell verschärft. Es war das neu entstandene Bildungsbürgertum, das den Kampf um nationale Identität, um die Anerkennung der nationalen Kultur und Geschichte, um die Repräsentanz im öffentlichen Raum führte. Ein Zusammenfall von nationaler und staatlicher Identität war nicht gegeben, und die erste Loyalität galt der Nation. Die Arbeiterschaft blieb länger von dieser Ideenwelt wenig berührt, gemeinsame Interessenlagen griffen über die Sprachgrenzen hinweg und schufen eher Klassensolidarität als nationale Gefühle. Aber dennoch gab es auch bei den Arbeitern nationalistische Tendenzen, die dadurch verstärkt wurden, dass in einer strengen sozialen Hierarchie bestimmte Berufsgruppen bestimmten Sprachgruppen vorbehalten waren. Industriearbeit war ein tschechisches und deutsches Phänomen ohne einheitliche Rangordnung zwischen diesen beiden Gruppen. In den Bergwerken der Steiermark waren dominant slowenische Arbeiter für die niedrigsten Arbeiten eingesetzt. Saisonarbeit bei kleinen Ziegelfabriken und beim Straßenbau war den Italienern vorbehalten, als Landarbeiter fand man überwiegend Slowaken. Die Baufirmen Wiens arbeiteten mit Tschechen, die Dienstboten und die Köchinnen kamen aus Mähren. Soziale und nationale Hierarchien waren oftmals deckungsgleich.Dennoch gab es verbindende Elemente: das Herrscherhaus, das Beamtentum, das äußere Erscheinungsbild der Monarchie mit seinen Schulen, Bahnhöfen und Kasernen, das Heer als großer gemeinsame Identität stiftender Faktor, die Sozialdemokratie mit ihrem zumindest in der Theorie übernationalen Anspruch und die katholische Kirche. Die Urbanisierung führte, ganz besonders in Wien, zu raschen Assimilationsprozessen, die städtische Durchlässigkeit war zumindest im Generationswechsel groß. In den Städten zweiter Ordnung, wie Brünn oder Graz, war die Situation allerdings dramatisch anders, hier wurde die zweite nationale Kultur ignoriert, ja sogar geleugnet. Und in Laibach war die Stadt Schauplatz eines erbitterten Ringens um die nationale Vorherrschaft. Das Bild ist insgesamt widersprüchlich, Zwangssituationen und Konflikte stehen neben pragmatischen Lösungen und kulturellen Bereicherungen.Das Ende des HabsburgerreichsDie nationale Frage hing ganz wesentlich auch mit der Außenpolitik zusammen. Der Ausgleich von 1867 hatte die Möglichkeit geboten, sich nach der Kriegsniederlage von 1866 wieder dem Deutschen Reich zu nähern, was sich im Berliner Kongress von 1878 deutlich zeigte und im Zweibund von 1879 manifest wurde. Die Magyaren trugen diese Außenpolitik mit, die inhomogene Gruppe der Slawen aber war nicht notwendigerweise zufrieden. Das Verhältnis zu Russland, Verlockungen des Panslawismus, die krisenhafte Entwicklung auf dem Balkan, all dies führte zu einer engen Verknüpfung von Außenpolitik und nationalen Kämpfen im Inneren der Monarchie. Gerade Bosnien und die Herzegowina, 1878 okkupiert, hatten die südslawische Frage in den Mittelpunkt gestellt. Als 1908 die Annexion dieser Gebiete erfolgte, die den Frieden ernsthaft gefährdete, stand dahinter auch die Idee, den Südslawen dauerhaft unter kroatischer Dominanz eine trialistische Struktur anzubieten und Teile der österreichischen Reichshälfte, zumindest Dalmatien, mit Kroatien, Bosnien und der Herzegowina zu vereinigen.Dass diese Ideen besonders in Serbien, das die Vereinigung der Südslawen unter serbischer Führung im Kampf gegen das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie plante, auf großes Misstrauen stießen, ist nicht weiter verwunderlich. Der österreichisch-serbische Gegensatz vertiefte sich. Die »Schwarze Hand«, eine serbische Geheimgruppe, operierte auf österreichischem Territorium. Als der vehementeste Vertreter einer trialistischen Reichsreform, Thronfolger Franz Ferdinand, zu einem Manöverbesuch nach Sarajevo aufbrach, war die Zeit zum Handeln gekommen. Dass dieser Besuch am 28. Juni — dem nationalen Trauertag der Serben, der an die verlorene Schlacht von 1389 gegen die Osmanen auf dem Amselfeld erinnerte — stattfand, war sicher nicht gerade eine geschickte Terminwahl. Die Ermordung des Thronfolgers und seiner Gattin an diesem Tag des Jahres 1914 waren jedenfalls der Anlass, nach einem Ultimatum an Serbien, welches allerdings weitgehend erfüllt wurde, diesem Staat den Krieg zu erklären und damit den Startschuss für den Ersten Weltkrieg zu geben. Alle Völker des Reiches zogen 1914 mit in diesen Krieg. Die Jahre des Krieges aber brachten eine dramatische Wende. Je realistischer im Kriegsverlauf die Niederlage wurde, desto stärker wurden die zentrifugalen Kräfte. Und als 1916 Kaiser Franz Joseph nach 68 Herrscherjahren verstarb, wurde sein Begräbnis zum symbolischen Begräbnis des Vielvölkerstaates. Wohl versuchte der Nachfolger, Kaiser Karl, mit weit reichenden Zugeständnissen in seinem Manifest »An meine Völker« die Monarchie zu retten, aber der äußere Druck durch die Kriegsniederlage und die beschleunigte innere Entfremdung ließen ein anderes Resultat als den Zerfall des Reiches 1918 nicht mehr zu.Prof. Dr. Helmut KonradWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Nationalitätenfrage: »Pulverfass Balkan« - Nationalitätenkonflikte im 19. JahrhundertÖsterreich: Erste RepublikGrundlegende Informationen finden Sie unter:Europa im Vormärz: Um Verfassung und NationEuropa im Revolutionsjahr 1848/49: Bürger auf den BarrikadenCharmatz, Richard: Geschichte der auswärtigen Politik Österreichs im 19. Jahrhundert, Band 2: 1848-1895. Leipzig 21918.Charmatz, Richard: Österreichs innere Geschichte von 1848 bis 1895. 2 Bände. Leipzig 31918.Die Habsburgermonarchie 1848-1918, herausgegeben von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch. Band 3: Die Völker des Reiches. Wien 1980.Kann, Robert A.: Geschichte des Habsburgerreiches 1526 bis 1918. Aus dem Amerikanischen. Neuausgabe Wien u. a. 31993.Österreichische Geschichte, herausgegeben von Herwig Wolfram. Band 8: Rumpler, Helmut: 1804-1918. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien 1997.Uhlirz, Karl: Handbuch der Geschichte Österreichs und seiner Nachbarländer Böhmen und Ungarn, Band 2, Teil 2: 1848-1914, bearbeitet von Mathilde Uhlirz. Graz u. a. 1941.Zöllner, Erich: Geschichte Österreichs. Wien u. a. 81990.
Universal-Lexikon. 2012.